Der Mindestlohn ist nicht anfechtungsfest
Rechtsprechung I BAG, Urteil vom 25. Mai 2022 – 6 AZR 497/21
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) stellt klar, dass die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt auch den auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Anteil umfasst. Indem es sich damit gegen die Auffassungen der Vorinstanzen, die ebenso wie eine verbreitete Literaturansicht den Mindestlohn von der Anfechtbarkeit ausnahmen, entschieden hat, beseitigt das BAG erhebliche Unsicherheiten der Insolvenzrechtsanwendung. Zugleich ordnet das BAG den Mindestlohnanspruch im Gefüge von Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht ein, und zeigt über den Fall hinausgehende Lösungsansätze auf.
Im streitgegenständlichen Sachverhalt war der spätere Insolvenzschuldner in seiner betrieblichen Krise dazu übergegangen, das Konto seiner Mutter für den Zahlungsverkehr zu nutzen. So füllte er das mütterliche Konto durch Zahlungen auf, zog Zahlungen dorthin ein und leistete seinerseits von daraus Zahlungen, auch Lohnzahlungen.
So zahlte der spätere Insolvenzschuldner an seine Arbeitnehmerin über das Konto der Mutter Ende 8/2016 das als „Lohn August“ sowie Ende 9/2016 das als „Lohn September“ bezeichnete Entgelt von jeweils netto € 1.640,31. Zum Zeitpunkt der Zahlungen war der Schuldner zahlungsunfähig.
Der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ging Mitte 10/2016 beim Insolvenzgericht ein, das Anfang 12/2016 das Insolvenzverfahren eröffnete.
Der Insolvenzverwalter focht gegenüber der Arbeitnehmerin die Lohnzahlung 08/2016 nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO und die Lohnzahlung 9/2016 nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO wegen inkongruenter Deckung an. Mangels Rückzahlung der Entgelte an die Masse erhob er Klage.
Das Arbeitsgericht Gießen als Eingangsgericht wies die Klage ab. Zwar bejahte es die Anfechtungsvoraussetzungen beider Lohnzahlungen, sah aber den Rückgewähranspruch durch den Mindestlohnanspruch der Arbeitnehmerin nach § 1 Abs. 1 Mindestlohngesetz (MiLoG) gehindert. Nach § 1 Abs. 1 MiLoG hat „jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer […] Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber“.
Das Arbeitsgericht sah im Mindestlohnanspruch eine eigene, unabdingbare Anspruchsgrundlage, die der verfassungsrechtlich gebotenen Sicherung des Existenzminimums diene. Daneben verfolge das MiLoG die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme. Die Anfechtbarkeit des Lohnbestandteils, der auf den Mindestlohn entfällt, könne nicht durch staatliche Sozialleistungen und das Insolvenzgeld kompensiert werden und sei ausgeschlossen.
Obgleich im Rechtsstreit die Höhe des gesetzlich als Stundenlohn ausgestalteten Mindestlohnanspruchs unstreitig war und zu einem – das ausgezahlte Entgelt um € 584,87 unterschreitenden – Mindestlohn von netto € 1.055,44 je Monat geführt hätte, wies das Arbeitsgericht die Klage umfänglich ab, da der Insolvenzverwalter zu den geleisteten Stunden nicht hinreichend vorgetragen habe.
Das Landesarbeitsgericht Hessen verurteilte in der Berufung zwar die Arbeitnehmerin zur Rückzahlung des den Mindestlohn übersteigenden Betrags von netto € 584,87 je Monat, bestätigte aber die Klageabweisung über den Mindestlohnanspruch von netto € 1.055,44 je Monat.
Die Revision des Insolvenzverwalters beim BAG war erfolgreich. Einen von den Vorinstanzen gesehenen Vorrang des abzusichernden Existenzminimums sah das BAG nicht und wandte ein, dass dieses durch die Pfändungsfreigrenzen, die auch in der Durchsetzung des Anfechtungsanspruchs durch den Insolvenzverwalter gelten, gewährleistet sei. Des Weiteren korrigierte das BAG den von den Vorinstanzen gesehenen, für den Vorrang herangezogenen Zweck des MiLoG, die Sozialsysteme zu entlasten, dahin, dass das MiLoG primär eine Beschäftigung zu unangemessenen Bedingungen verhindern wolle. Die Sozialsysteme seien demgegenüber zur umfassenden Existenzsicherung des Arbeitnehmers berufen. Daher sei der Mindestlohnanspruch nicht vor Anfechtbarkeit geschützt.
Die Entscheidung des BAG, die sich auf die Anfechtung inkongruenter Deckungshandlungen bezieht, verdient Zustimmung. Das BAG stellt den gesetzlichen Gleichrang der InsO und des MiLoG klar. Es konturiert zugleich den Verfassungsauftrag zur Existenzsicherung, den es in den Pfändungsfreigrenzen und dem Sozialrecht als den beiden tragenden Säulen gewährleistet sieht. Daher besteht kein Anlass, dem MiLoG daneben eine Sonderrolle beizumessen.
Mit dieser Klarstellung gibt das BAG zugleich Lösungsansätze über den Fall hinaus vor. So hatte es zuvor bei der Anfechtung kongruenter Deckungshandlungen nach § 130 InsO die Frage aufgeworfen, ob durch eine verfassungskonforme Einschränkung der Insolvenzanfechtung das im Arbeitsentgelt enthaltene Existenzminimum anfechtungsfrei zu stellen sei (vgl. BAG v. 29. Januar 2014 – 6 AZR 345/12; BAG v. 17. Dezember 2015 – 6 AZR 186/14). Mit der jetzigen Entscheidung ist jedoch klargestellt, dass der Schuldner einerseits durch das Vollstreckungsrecht und andererseits durch das Sozialrecht umfassend geschützt ist, so dass es auch hier einer Einschränkung der Insolvenzanfechtung nicht bedarf.
Johannes Reinheimer
Rechtsanwalt